Buchkritik: Mexican Gothic (2020)

Cover von Silvia Moreno-Garcias Roman "Mexican Gothic". Darauf zu sehen ist eine junge Frau in einem roten, schulterlosen Kleid, die einen Strauss gold-gelber Blumen in den Händen hält. Ihr Gesicht ist ab den Augen aufwärts aufgrund des Bildauschnitts nicht zu sehen.

Ein schauriger Ausflug in die jüngere Geschichte Mexikos

Silvia Moreno-Garcia hat sich in den letzten Jahren einen Namen als versierte Autorin von Schauerromanen erarbeitet. Zu ihren wohl bekanntesten Erzählungen zählt der Roman Mexican Gothic, der hierzulande unter dem Titel Der mexikanische Fluch erschienen ist. Endlich habe ich das Buch, das inzwischen als moderner Klassiker der Gothic Fiction gilt, nachgeholt – und abgesehen von kleineren Schwächen bin ich begeistert.

Foto von einer Hand, die den Roman "Mexican Gothic" hält. Auf dem Cover des Buchs zu sehen ist eine junge Frau in einem roten, schulterlosen Kleid, die einen Strauss gold-gelber Blumen in den Händen hält. Ihr Gesicht ist ab den Augen aufwärts aufgrund des Bildauschnitts nicht erkennbar.

Mexiko während der 1950er-Jahre: Die junge Noemí Taboada atmet das glamouröse Großstadtleben von Mexiko-Stadt mit jeder Pore ihres Körpers. Doch als ein merkwürdiger, panischer Brief ihrer frisch verheirateten Cousine Catalina sie erreicht, reist Noemí kurzerhand in das geisterhafte Hochland von Hidalgo. Dort befindet sich High Place, das altehrwürdige Anwesen der englischen Familie Doyle, in die Catalina eingeheiratet hat. Einst eine durch eine Silbermine reich gewordene Familie, sind die Doyles inzwischen ein kleiner, zurückgezogener und vor allem merkwürdiger Clan geworden. Den Kontakt zur mexikanischen Kultur meiden sie weitestgehend und begegnen entsprechend auch Noemí abweisend. Doch die lässt sich vom elitären Kolonialgehabe der Doyles nicht einschüchtern. Dem steinalten, widerwärtigen Patriarchen Howard sowie dessen Sohn und Catalinas Ehemann Virgil begegnet sie mit erhobenem Haupt. Doch sie merkt nicht, dass sie selbst im Begriff ist, sich im Spinnennetz von High Place und den Doyles zu verfangen.

Atmosphäre über Handlung

Immer wieder wird Mexican Gothic mit Schauerliteratur wie Jane Eyre und Die Geheimnisse von Udolpho verglichen. Verständlich, geht es doch auch in Der mexikanische Fluch um ein altes Haus, das immer weiter verfällt. Auch hier steht das Gebäude an sich sinnbildlich für die Familie, der es gehört. Ähnlich wie diese Größen der klassischen Gothic Fiction zieht Moreno-Garcia sämtliche Register, um die nötige Stimmung zu schaffen. Nur langsam baut sich die Handlung auf, steigert sich dann aber kontinuierlich bis zu einem rasanten Finale.

Zunächst scheint das Geschehen in High Place ruhig und träge. Noemí verbringt einen Tag nach dem anderen auf dem Anwesen, ohne sich wirklich um ihre erkrankte, psychisch labile Cousine sorgen zu kümmern. Über weite Strecken erzählt Mexican Gothic somit von Inaktivität und Passivität. Es gibt schlicht nichts Sinnvolles, was Noemí an diesem angestaubten Ort tun kann. Im nebligen Hochland kommt ihr Leben zum Stillstand und mäandert scheinbar ziellos vor sich hin.

Für Fans von kurzweiligen und rasanten Plots dürfte genau hier auch die größte Schwäche des Romans liegen. Bis zum letzten Viertel kommt die Handlung nicht wirklich voran, sondern kreist immer wieder um sich selbst und die Merkwürdigkeiten, die Noemí in High Place erlebt. Wer aber genau diese langsame Art des Erzählens mag, findet in Der mexikanische Fluch genau das, was der englische Originaltitel verspricht: eine waschechte Gothic Novel, angesiedelt in Mexiko.

Ein ungewöhnliches Setting

Genau dieser tituläre Anspruch, nämlich eine mexikanische Variante der ursprünglich englischen Gothic Fiction zu sein, macht Moreno-Garcias Roman so spannend. Kulturelle und zeitgemäße Themen sind omnipräsent in der Erzählung, ohne jedoch Überhand zu nehmen oder arg gekünstelt zu wirken. Es ist das Mexiko der 1950er-Jahre: In der Hauptstadt herrscht für die, die es sich leisten können, ein kunterbuntes Partyleben. Es ist völlig normal, dass Frauen wie Noemí rauchen und mit Männern auf diesen Cocktailparties kokettieren. Doch wählen oder öffentliche Universitäten besuchen dürfen sie nicht. Es ist eine Welt im Umbruch, die einerseits nach vorne in die Moderne drängt, andererseits aber an veralteten Werten festhält.

Dieser Widerspruch wird nur ersichtlicher, als Noemí ins gebirgige Hidalgo reist. High Place ist, wie der Name bereits impliziert, ein hochgelegenes Anwesen, das über dem kleinen Städtchen El Triunfo thront. Während die Stadt schon wie aus der Zeit gefallen wirkt, verstärkt sich dieser Eindruck im Anwesen der Doyles nur. Das Gebäude ist nur teilweise elektrifiziert und bei schlechtem Wetter sind die Straßen nach El Triunfo nicht passierbar. Howard Doyle ist begeisterter Anhänger der veralteten, aber zu diesem Zeitpunkt durchaus noch präsenten Eugenik und möchte mit Noemí seine ekelerregenden Gedanken zur Rassenhygiene diskutieren. Auch die Mexikanische Revolution (1910-1920) wirkt noch nach, denn sie war einer von mehreren Schlüsselmomenten, aufgrund derer die lokale Silbermine nicht mehr betrieben werden konnte und somit der Reichtum der englischen Familie schwand.

All diese Details verleihen Mexican Gothic eine Stimmung, die zugleich (alb-)traumhafte und doch glaubwürdige ist. Kurzum: eine Vielschichtigkeit, die Noemís bedrückendes und zunächst unbestimmtes Gefühl des Unwohlseins in High Place greifbar vermittelt.

Etwas zu kurz kommen dabei einige der Charaktere. Howard Doyle, der als körperlich wie geistig abstoßender Patriarchat über High Place herrschen soll, ist schlicht nicht präsent genug, um wirklich wie eine Bedrohung zu wirken. Auch die Nebencharaktere, die nicht unmittelbar mit den Doyles verbandelt aber doch für die Handlung essenziell sind – der Familienarzt, die Kräuterkundige, usw. – entfalten ihr erzählerisches Potenzial nicht.

Dem Roman kann ich diese Schwächen jedoch problemlos vergeben. Mexican Gothic gehört für mich schon jetzt zu meinen persönlichen Lese-Highlights 2024. Woran ich das festmache? Unter anderem daran, wie lange ich noch über den Roman nachdenke, nachdem ich ihn bereits fertiggelesen habe. Immer wieder fallen mir im Nachhinein weitere Kleinigkeiten ein, die der Erzählung eine weitere Ebene hinzufügen. Es gibt unzählige Wege, an diesen Roman heranzutreten und ihn zu analysieren.

Im Nachgang an diese Rezension möchte ich einige dieser Schlüsselthemen kurz umreißen. Doch zunächst die harten Fakten!

Factsheet: Mexican Gothic

Erscheinungsdatum: 2020
Autorin: Silvia Moreno-Garcia
Seiten: 301


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Spoilerwarnung: Nachfolgend wird die Handlung des Romans besprochen.

Mexican Gothic als Spukhauserzählung

Haunted House Tales sind für mich die Crème de la Crème der Schauerliteratur. Egal ob Edgar Allan Poes Der Fall des Hauses Usher, Shirley Jacksons Spuk in Hill House, Stephen Kings Shining oder eben Silvia Moreno-Garcias Mexican Gothic: In diesen alten, teils zu Ruinen verfallenen Gemäuern fühle ich mich zuhause. Sie vermitteln ein Gefühl des wohligen Grusels, das sich zu einem nihilistischen Höhepunkt des Grauens entwickelt.

High Place ist ein eigenständiger Charakter, dessen Motivationen und Absichten sowohl Noemí als auch wir beim Lesen immer wieder zu deuten versuchen. Dabei steht in dem Moment, in dem Noemí das Haus betritt, eine Frage im Vordergrund: Gehen Geister in High Place um? Oder ist es vielleicht das Haus selbst, das seine Bewohnerinnen und Bewohner heimsucht?

Cover von Dale Baileys Sachbuch "American Nightmares". Auf lilanem Hintergrund ist eine Zeichnung eines großen Anwesens zu sehen, vor dem ein Geist schwebt und aus dessen Fenster Fledermäuse aufsteigen.

Mit dieser Ambivalenz folgt Mexican Gothic einer Erzähltradition, der sich Dale Bailey in seinem Sachbuch American Nightmares: The Haunted House Formular in American Popular Fiction gewidmet hat. Zugegeben, Baileys Buch versucht zwanghaft, das Subgenre der Spukhauserzählungen auf einen gemeinsamen, homogenen Nenner zurückzuführen, der bei genauerer Betrachtung nicht stichhaltig ist. Nichtsdestotrotz identifiziert Bailey einige Gemeinsamkeiten, die diese Haunted House Tales für uns Leser*innen wiedererkennbar machen – quasi die Spielregeln des Subgenres.

Auszug aus Dale Baileys Sachbuch "American Nightmares"; darin wird beschrieben, welchen Regeln Spukhausgeschichten in puncto Setting, Charaktere, Handlung und Themen folgen.
Bailey, Dale (1999): American Nightmares – The Haunted House Formular in American Popular Fiction, S. 56

Mexican Gothic ist so ein hervorragender Roman, weil er diese Spielregeln mit Leichtigkeit bedient und dennoch einen eigenen Weg einschlägt. Die Kernfrage, ob nun das Haus selbst spukt oder aber von Geistern heimgesucht wird, wird hier mit einem klaren „Beides!“ beantwortet. Es wird heimgesucht von den Geistern der Doyles, die wiederum aber nur deswegen in High Place gefangen sind, weil das Gemäuer bereits seit Jahrhunderten von einem Pilz durchwachsen wird. Der hat sich im Laufe der Zeit mit den Doyles vereinigt. Mensch, Gebäude, Pilz: In High Place verwächst all dies zu einem grotesken Horror, der an vielen Stellen an die Weird Fiction eines H. P. Lovecraft erinnert und diese zugleich übertrifft.

Verdrehte Rollen

Auch für eine Figurenanalyse bietet sich Mexican Gothic an. Noemí ist die selbstsichere Hauptfigur, die ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten möchte. Mit den „Damsels in Distress“, den unschuldigen und hilfsbedürftigen Protagonistinnen wie wir sie noch im oben erwähnten Die Geheimnisse von Udolpho von Ann Radcliffe sehen, hat sie wenig gemein. Noemí möchte studieren, sie möchte wählen und sie möchte weiterhin ihre Cocktailpartys genießen. Die gesellschaftliche Vorstellung davon, wie eine Frau sich zu verhalten hat, hinterfragt sie nicht nur, sondern bricht mit ihr geradeheraus. Dabei verliert Noemí jedoch nicht ihre Menschlichkeit, sondern bleibt eine sympathische, dreidimensionale Hauptfigur.

Ihr Gegenstück ist ihre Cousine Catalina, die schon eher der Vorstellung einer Damsel in Distress entspricht. Und doch müssen wir auch hier bei genauerer Betrachtung feststellen, dass dem keineswegs so ist: Auch Catalina versucht seit ihrer Ankunft in High Place, den Doyles und ihren finsteren Plänen zu entkommen. Sie hatte nur weniger Glück als Noemí und wurde so mittels Drogen ruhiggestellt.

Auf der anderen Seite stehen die Doyles. Die Familie bleibt gerne unter sich – wortwörtlich, blickt sie doch aufgrund von Inzest auf einen ziemlich geradlinigen Stammbaum zurück. Dennoch gibt es auch hier mehrere Überraschungen. Die aufmüpfige Ruth hat versucht, ihrer Familie zu entkommen und ähnelt Noemí und Catalina in dieser Hinsicht. Der hilflose und niedergeschlagene Francis, dagegen, lebt nach den Vorstellungen seiner tyrannischen Familie, bis er von Noemí zur Rebellion angestiftet wird. Wenn jemand hier ein Damsel in Distress ist, dann dieser männliche, englische Erbe.


Dies sind lediglich zwei von vielen möglichen Ansatzpunkten. Kolonialismus, Eugenik, Marginalisierung – all dies sind weitere wichtige Themen, die im Roman präsent sind und ihm seine Vielschichtigkeit verleihen.

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